Versprechen und Scheitern
Von Christoph Schütte
 
Von der Utopie und der Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung: Oliver Tüchsen und Jens Lehmann stellen in der Frankfurter Ausstellungshalle Schulstraße 1A aus.

Ob es am Ort liegt? An dieser ehemaligen Waschhalle, die wie geschaffen scheint für diese Bilder? Oder an der offenbar äußerst fruchtbaren Kooperation mit dem Kollegen Tüchsen bei diesem "Aufbruch zur geordneten Willkür", wie die beiden Städelschulabsolventen ihre aktuelle Schau in der Frankfurter Ausstellungshalle Schulstraße 1A überschrieben haben? Keine Ahnung. Denn im Grunde ist Jens Lehmann sich und seinem Thema auch in seinen aktuellen Bildern treu geblieben. Wie eh und je sind es vornehmlich Interieurs und Stadtlandschaften, die den leicht verkommenen Charme von Siebziger- und Achtziger-Jahre-Architektur ausstellen und mithin das Scheitern, nun, nicht gerade einer Utopie, aber doch eines Konzepts, einer Idee wenigstens von Urbanität.

"Die Welt aufräumen", hat der einstige Meisterschüler von Per Kirkeby sein künstlerisches Vorgehen einmal genannt, den Versuch also, mit den Mitteln der Malerei das Chaos zu ordnen im Bild. Und manche seiner Arbeiten, mochte man bisweilen denken, sehen haargenau so aus: recht brav. Und, nun ja, ordentlich. Freilich, wie prekär diese Ordnung bei genauerer Betrachtung immer schon war, wie ambivalent die Geschichten von wohleingerichteter Idylle und ihrem Zerfall, von Heimeligkeit und Unbehaustheit, An- und Abwesenheit, all das lässt sich angesichts dieses "Aufbruchs" beim besten Willen nicht mehr übersehen.

Weniger, weil er in seinen mitunter gewaltigen Formaten Fotografie und Malerei und Collage zusammenführt zu einem Bild des Bahnhofsviertels oder einer zugigen "Künstlerbude", die aber auch so gar nichts hat von einem tröstlich pittoresken Spitzwegcharme. Vergleichbar geht der Frankfurter Künstler schließlich schon seit Jahren vor. Und doch ist alles anders. Finden Versprechen und Scheitern nicht nur kühl und sauber in

einem Bild zusammen, sondern in einer Haltung, die sich in einer schmutzigeren, ja rotzigeren Malweise niederschlägt, die der traurigen Realität urbaner Landschaft durchaus adäquat erscheint. Und seinem Werk zugleich eine Frische und Dynamik verleiht, die wie eine Befreiung wirkt.

Auch Oliver Tüchsen beschäftigt sich, pointierter noch als Lehmanns Malerei, mit den gescheiterten und stillschweigend aufgegebenen Versprechen der Moderne. Nur dass die Zeichnungen, die über riesige Papierbögen zu labyrinthischen Strukturen sich auswachsenden Raster, Lineaturen und Module des 1971 im portugiesischen Porto geborenen Künstlers zwar den Geist der konstruktiven Utopie mit ihren eigenen Mitteln unablässig dementieren und endlich ad absurdum führen. Doch Tüchsen, scheint es, träumt ihn noch, den Traum der Avantgarden, offenen Auges und im Wissen um ihr Scheitern. In der Ausstellungshalle überrascht er nun neben seinen raumgreifenden Zeichnungen mit einer Reihe mannshoher Figuren, die ein wenig an die Spielzeugroboter des Apollo-Zeitalters erinnern und manchen Kunstbeflissenen womöglich gar an Thomas Schüttes ein wenig aus der Form geratene "Große Geister". Nur dass sie bei Tüchsen gleichsam alle Grüne Punkte tragen. Plastikflaschen, Schaumstoff und Styropor, Abfallholz, Strohhalme und Kaninchendraht sind ihm sein Material für die geradezu nostalgisch anmutenden futuristischen Gestalten: Die Zukunft unserer Kindheit, recycelt und aus zweiter Hand. Dass Jens Lehmann ihnen wiederum eine Art Bushaltestelle in die Halle gebaut hat, deren Architektur beider gemeinsames Thema noch einmal lakonisch zu verdichten scheint, ist eine hübsche Pointe am Rande. Denn genau besehen kann es keinen Zweifel geben: Die Haltestelle "Utopie" wird hier allenfalls besichtigt. Doch schon lange nicht mehr angefahren.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,
22. November.2009, Nr. 47